Vorwort Theresa Keilhacker Berliner Wohnungsbau Über die Dialektik von Not und Tugend In Berlin fehlen jüngsten Erhebungen zufolge gut 100.000 Wohnungen. Eine ungeheuerliche Zahl. Die bedrückende Lage auf dem hauptstädtischen Wohnungsmarkt zieht nicht nur soziale Verwerfungen nach sich, sondern droht auch die wirtschaftliche Dynamik auszubremsen. Denn wo dringend benötigte Fachkräfte kein Zuhause finden, ziehen sie auch nicht hin. Doch ist das allerorts beschworene „Bauen, bauen, bauen“ wirklich die richtige Lösung für diesen Missstand? Müsste man nicht viel mehr die Frage stellen, wie sich das ehrgeizige politische Ziel – 20.000 neue Wohnungen pro Jahr – mit den baukulturellen, sozialen und klimapolitischen Maßgaben einer nachhaltigen Stadtentwicklung verträgt? Wer den städtischen Wohnungsbau als Auftrag aus der Zukunft versteht, kommt nicht umhin, Planung, Bau und Betrieb von Wohnraum anders zu denken, neu zu gestalten und unter andere, nachhaltige Prämissen zu stellen. Um zu ökologisch verantwortbaren Lösungen für die Wohnungsfrage zu kommen, müssen wir für den Neubau bedarfsgenaue und platzsparende Grundrisslösungen entwickeln, das ressourcenschonende Bauen in Kreisläufen durchsetzen und alle Vorhaben nicht nur auf Suffizienz, Langlebigkeit und Reparierbarkeit prüfen, sondern immer auch fragen: Ist ein Neubau nötig? Denn die von uns Planerinnen und Planern forcierte Bauwende räumt der Weiternutzung und -entwicklung von Bestand den Vorrang ein: Umbau vor Neubau. Im Vorhandenen schlummern immense Potenziale, die gerade in Berlin noch viel zu wenig genutzt werden. Doch dafür muss der Planungsprozess auf allen Ebenen eine Schubumkehr vollziehen – von den Planungsbüros über die Bauämter bis hin zur Bauwirtschaft und der Auftraggeberseite. Und es geht auch nicht ohne neue ordnungspolitische Weichenstellungen. Denn um Bestand weiterentwickeln zu können, fehlt es derzeit an einer flächendeckenden Erhebung der vorhandenen Potenziale ebenso wie an einer Genehmigungspflicht für den Abriss von Altsubstanz. Doch gerade für einen zukunftsfähigen Wohnungsbau reicht es nicht, nur die Produktionsbedingungen im Sinne der Nachhaltigkeit zu transformieren. Nötig ist auch ein Wandel der Wohnansprüche, insbesondere mit Blick auf den ausgeuferten Pro-Kopf-Verbrauch an teuren Quadratmetern. Qualität hat nur bedingt mit Größe zu tun, dafür aber umso mehr mit passenden Grundrissen, die sich flexibel den ändernden Bedürfnissen anpassen können. Der Vielfalt an Lebensentwürfen und Haushaltsgrößen muss auch das räumliche Angebot nachkommen – und sozial und ökologisch wünschenswerte Wohnformen durch entsprechende Planungen ermöglichen. Natürlich ist es nötig, dass nachhaltiger Wohnungsbau bezahlbar bleibt. Deshalb gilt es, die angestrebte Energieeffizienz und den sparsamen Einsatz von endlichen Ressourcen nicht über noch komplexere Gebäudetechnik zu erreichen. Es gibt schon jetzt vielversprechende Low-TechKonzepte, die auf einfache, robuste und reparaturfreundliche Lösungen setzen und weder der Wohnungsqualität noch dem Komfort abträglich sind. Sie helfen, Bau- und Betriebskosten zu reduzieren. Das Gleiche gilt für den industriell vorgefertigten Holzbau, der mit einem planerisch verantwortlichen und klugen Einsatz, beispielsweise bei Aufstockungen auf den Bestand, erhebliche Einsparpotenziale heben kann. Mit weiteren guten Ideen und Ansätzen, auch leerstehende Büroflächen zu Wohnraum werden zu lassen, können wir eine neue Umbaukultur in Berlin etablieren und zum Motor einer echten Bauwende machen. Theresa Keilhacker Präsidentin der Architektenkammer Berlin Foto: © Bettina Keller Fotografie 8
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