architektur berlin 2022

Vorwort Dr.-Ing. Ralf Ruhnau n Erstens kommt alles anders und zweitens als man denkt: Nachdem aufgrund der Corona-Pandemie schon der Abgesang auf eine prosperierende Wohn- und Gewerberaumentwicklung in den Innenstädten erfolgte, die Rede war von stürzenden Preisen im Gewerberaumsektor, weil ja zukünftig fast alle vom Homeoffice aus arbeiten würden und der Wohnraum aufgrund der Krise unbezahlbar werden würde, sieht die Perspektive nun nach einer aktuellen PWC-Studie ganz anders aus: Während die Halter von Wohnimmobilien auch nach dem Scheitern des Mietendeckels wieder mehr profitieren, leiden die Gewerbeimmobilienhalter durch Ladenschließungen und anhaltendes Arbeiten im Homeoffice stärker – aber auch in diesem Segment setzt sich die Erholung, die bereits Ende 2020 begonnen habe, fort. Das lässt für das Planen und Bauen in dieser Stadt hoffen. Auch andere vermeintliche Gewissheiten sind eben nur vermeintlich in Stein gemeißelt: Erstmals nach 20 Jahren erlebt Berlin kein NettoZuwanderungsplus in 2020, sondern einen Verlust an Einwohnern. Die Menschen ziehen von der Innenstadt an die Peripherie oder gleich nach Brandenburg. Geschuldet ist diese neue Migrationsbewegung auch einem Vertrauensschwund in den Standort Berlin, denn eine ideologisch geprägte und bremsende Mietendeckeldiskussion über Jahre verdrängt Investoren ins Umland. Auch dass sich führende Parteien der Stadt zum Enteignungsbegehren bekennen, fördert alles andere als eine florierende Wohnungsbaupolitik. Projekte werden zurückgestellt, wenn nicht ganz abgesagt. Schon bestätigt die Senatsverwaltung für Bauen und Wohnen eine rückläufige Zahl an Bauanträgen insgesamt. Und die viel gescholtene Wohnungsspekulation? Selbst der Senat geht davon aus, dass Spekulationen eher die Ausnahme sind. Diesen Tendenzen muss dringend entgegengewirkt werden. Nicht nur durch ein freundlicheres Investitionsklima. Auch das Bauen selbst muss sich in Teilen neu erfinden: Endlich kommt das serielle und modulare Bauen – von uns schon lange gefordert – auch in der Berliner Bauwelt an. Holzbau und andere nachhaltige Materialien sind auf dem Vormarsch. Da ist technologieoffenes pragmatisches Denken gefordert. Und schließlich muss die Stadt – bei steigendem mobilem Individualverkehr, sprich Kfz-Anteil – trotz aller Fahrrad-, Fußgänger- und ÖPNV-Freundlichkeit, den Spagat zwischen Mensch und Kfz meistern. Die jetzt neu geplante Mühlendammbrücke ist dafür ein gelungenes Beispiel: Sie vereint gekonnt perspektivisch florierenden Individualkraftfahrzeugverkehr mit einem zu verstärkenden Schwerpunkt auf Fahrrad-, Fußgänger- und ÖPNV-Anteil. Die Stadt muss für alle lebenswert bleiben. Die von der Politik wohlfeil postulierte Forderung nach Verzicht und Einschränkung beim Energie- und Platzverbrauch darf nicht zu Lasten der sozial Schwächeren und des Mittelstandes gehen. Vor allem Letzterer ist auch in Berlin das Rückgrat einer gesunden Stadtentwicklung. Wir Ingenieure sind gefordert intelligente, wissenschaftlich begründete und diversifizierte Lösungen für die vielfältigen Aufgaben unserer Stadt zu entwickeln und die Politik muss diese ideologiefrei aufnehmen. Dr.- Ing. Ralf Ruhnau Präsident der Baukammer Berlin Foto: © privat 9

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